Am 30. Juni 1927 erhält die Schriftstellerin Regine Normann ein Telegramm von Fridtjof Nansen. Der große Polarforscher gratuliert ihr (mit einem Tag Verspätung) zum 60. Geburtstag und bedankt sich gleichzeitig bei ihr:
„Herzlichsten Glückwunsch. In Dankbarkeit für Ihr fruchtbringendes Wirken
Fridtjof Nansen“ (1)
Für was genau ist er so dankbar? Worauf bezieht er sich? Auf ihr schriftstellerisches Werk? Sicherlich lassen sich die Romane und Märchen von Regine Normann oder auch ihre Arbeit als Lehrerin als „fruchtbringend“ bezeichnen. Doch wenn wir diese etwas altbackenen und blumigen Worte einmal modern als „wirksames Handeln“ übersetzen, dann schwingt doch gleich mehr mit. Nein, hier wird nicht „nur“ der Dank eines wohlgesonnenen Lesers ausgedrückt. Hier geht es Fridtjof Nansen vielleicht sogar um etwas sehr persönliches.
Er könnte sich unter anderem auf etwas beziehen, was zum Zeitpunkt des Telegramms bereits zehn Jahre zurück liegt: ein kleiner Schlagabtausch in der Osloer Tageszeitung „Tidens Tegn“, dessen Bedeutung vielleicht erst in der Rückschau erkennbar wird.
Im Februar 1917 schreibt Regine Normann für die Osloer Tageszeitung Tidens Tegn einen Artikel über das Polarschiff Fram.
Die Fram hat zu diesem Zeitpunkt ihre drei großen Expeditionsfahrten bereits hinter sich und liegt seit Jahren seeuntüchtig im Oslofjord im Hafen. Das weltberühmte Schiff, das seit jeher Staatseigentum ist, droht zu verrotten bzw. ausgeschlachtet zu werden. In ihrem Zeitungsartikel macht Regine Normann auf diesen Missstand aufmerksam und fordert in einer Art offenen Brief die Wiederherstellung der Fram als Museumsschiff – mit allen bereits entwendeten Originalteilen!
Regine Normann ist eine glühende Verehrerin der Polarschiffahrt, ja, der Seefahrt überhaupt. Als Kind der Vesterålen weiß sie, was es heißt, vom Meer und den Schiffen abhängig zu sein. In ihrer Kindheit waren es die Boote der Fischer, die die Nahrungsgrundlage für eine ganze Region transportierten. Und die Verbindungen für die Menschen zwischen den Inseln und dem Festland wurden durch eine lokale Hurtigrute sichergestellt. Später waren es die große Postschiffe der Hurtigrute von Richard With, die Regine Normann immer wieder von Oslo über Bergen in ihre Heimat brachten. Sie schrieb sogar eine Biografie über den Hurtigruten-Gründer Richard With (die leider nie veröffentlicht wurde). Mit seiner Tochter, Nana With, war sie bestens bekannt (aber das ist eine andere Geschichte…).
Es bricht Regine Normann das Herz, die Fram verkommen zu sehen.
Es brach sicherlich auch Nansens Herz. Die Fram war sein Baby. Die Schiffskonstruktion, die es möglich machte, dem Packeis standzuhalten, basierte auf seinen Überlegungen. Sein Versuch, mit der Fram den Nordpol zu erreichen, dauerte von 1893 bis 1896 und scheiterte spektakulär – Nansen wird als Held gefeiert, das Schiff und die Besatzung kehren heil zurück. Und auch wenn die Fram nicht Nansen gehörte, sondern Staatseigentum war, fragte Roald Amundsen,der zweite große Polarforscher dieser Zeit, einige Jahre später als erstes ihn, ob er die Fram für seine nächste Expeditionsreise nutzen dürfte. Nansen sagte ja, weil er seine eigenen Expeditionspläne nicht weiter verfolgte, und 1909 gab dann auch das norwegische Parlament die notwendige Zustimmung. Amundsens Südpol-Expedition mit der Fram wurde ein überwältigender Erfolg, so dass er nach der Rückkehr gleich mit der Planung einer neuen Expedition begann – allerdings mit einem neuen Schiff.
Regine Normann schreibt also besagten Zeitungsartikel, veröffentlicht 18. Februar 1917:
„Ich stehe auf dem Landweg oberhalb der Werft und sehe Roald Amndsens neues Polarschiff, und unwillkürlich schweifen meine Gedanken zur alten, berühmten, von der hanzen Nation geiebten „Fram“. Das Glücksschiff, dass den Namern Norwegens von Pol zu Pol getragen hat.
Kein einziger von uns, der als Zuschauer dabei war, wird den Sonnentag vergessen, an dem die Fram, klein und geschunden mit schlimmen Schrammen vom Treibeis, in den Hafen einlief!
[…]
Direkt neben der Werft mit dem neuen Polarschiff steht ein Schuppen. Dadrin und draußen davor unter dem Schnee liegt nun alles, was von der alten „Fram“ zur Weiterverwertung abmonitiert werden konnte. Es soll für Roald Amundsens neues Schiff verwendet werden, höre ich.“
Die Situation ist delikat, denn Roald Amundsen hat tatsächlich begonnen, sich der noch brauchbaren Teile der Fram zu bedienen, um sich ein neues eigenes Expeditinsschiff (die Maud) zu bauen. Das steht fünf Tage nach Normanns Artikel als eine öffentliche Antwort in der gleichen Tageszeitung:
„Da Herr Amundsen, so weit uns bekannt ist, sein neues Schiff mit persönlichen Mitteln ohne öffentliche Unterstützung ausrüstet, wäre es Aufgabe des Verteidigungsministeriums, ihn zu bitten, im Interesse der Sache die bereits entfernten Gegenstände wieder zurück zu geben, wobei es als selbstverständlich anzusehen ist, dass er dafür eine materielle Entschädigung erhält.“ (3)
Es ist die Kristiania Seemannsvereinigung, die diesen Sachstand erstmals der Öffentlichkeit preisgibt, letztlich auf Druck von Regine Normann. Die Interessensvertretung der Reeder und Seefahrer war selbst mit dem fehlenden öffentlichen Engagement für den Erhalt der Fram, sei es nun staatlich oder privat finanziert, genau so unzufrieden wie die Schriftstellerin. Die Vereinigung hatte begonnen, im Hintergrund zu arbeiten und ein Komitee zur Begutachtung der Fram nach Horten geschickt. Bereits einen Monat vor Erscheinen des Zeitungsartikels von Regine Normann legte das Komitee seinen internen Bericht der Seemannsvereinigung vor. Demnach handelte Amundsen eindeutig mit Zustimmung des Staates, vielleicht als darüber hinaus keinerlei staatliche Förderung bewilligt wurde. Doch Amundsen und das Parlament scheinen nicht mit dem Widerstand der interessierten Öffentlichkeit gerechnet zu haben. Deren Wortführerin ist jetzt Regine Normann.
Durch den offenen Brief der national bekannten Schriftstellerin gerät die Seemannsvereinigung jetzt in Zugzwang, sich öffentlich zu den bereits eingeleiteten Rettungsaktionen zu äußern. In einem persönlichen Brief bedankt sich Christian Christensen, Vorstand der Seemannsvereinigung, sogar bei Regine Normann für ihr Engagement und betont ihr gegenüber, dass ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit der Sache ja nur dienen könne, schießlich brauche man jetzt Geldgeber, um die Fram zu retten. Dem Brief liegt sogar – als eine Art Ehrerbietung – eine Kopie des Berichtes bei, den das Komitee nach der Besichtigung der Fram erstellt hat. (4) Dies nimmt Regine Normann zum Anlass, noch einmal nachzusetzen und nur wenige Tage später in der Tidens Tegn die Veröffentlichung des Besichtigungsberichtes zu fordern. (5).
Und sie versucht weitere Personen einzubeziehen, die möglicherweise Einfluss nehmen können. Einer davon ist Johan Anker, der bis 1915 gemeinsam mit Christian Jensen eine der führenden Werften Europas, Anker & Jensen A/S, betrieb. Nachdem die beiden Geschäftspartner sich getrennt hatten, führte Johan Anker die Bootswerft als alleiniger Gesellschafter weiter, spezialisierte sich jedoch auf kleinere Segelschiffe für Regatten. Christian Jensen gründete eine neue Firma. Sein erster großer Auftrag als alleiniger Inhaber der Christian Jensen skibsbyggeri war: der Bau des neuen Polarschiffs Maud für Roald Amundsen. (6)
Vielleicht hat Regine Normann gehofft, dass Johan Anker auf seinen ehemaligen Geschäftspartner Christian Jensen Einfluss nehmen und ihn dazu bewergen könnte, Amundsen zur Rückgabe der Fram-Schiffsteile zu bewegen. Ich weiß es nicht, ich habe es noch nicht herausgefunden. Fakt ist, dass Johan Anker am 1. März 1917 einen Brief an Regine Normann schreibt, in dem es um diese Angelegenheit geht. (7) Ich lese den Namen Amundsen und etwas von den Masten der Fram. Ich bekomme hoffentlich in den nächsten Tagen hier auf den Vesterålen Hilfe, um alles zu entziffern…
*
Und deshalb endet die Geschichte an dieser Stelle jetzt erst einmal. Weitere Dokumente zu diesem Thema sind im Privatarchiv von Regine Norman nicht zu finden. Soviel habe ich herausgefunden: Roald Amundsen hat wohl nicht nachgegeben, sondern verwendete die Masten, Ruder sowie die Ankerwinde der Fram für den Neubau. (8) Und auch die Fotos der Königsfamilie, ursprünglich ein Geschenk für die Fram, nahm er mit und hängte sie in den Salon der Maud.
Es sollte noch weitere zwölf Jahre dauern, bis 1929 endlich mit der Wiederherstellung der Fram begonnen wurde. Diese Bemühungen des ersten Komitees blieben erfolglos. Trotzdem gehört Regine Normann der Dank von Fridtjof Nansen, weil sie ihren Namen für die gute Sache eingesetzt hat.
Erst Otto Sverdrup schaffte es 1925 mit seinem neuen Framkomitee, Bewegung in die Sache zu bringen. Und erst rund 20 Jahre nach dem Zeitungsartikel von Regine Normann, sprich 1936, wurde das Fram-Museum in Oslo eingeweiht und die Fram damit als Museumsschiff öffentlich zugänglich gemacht. Zu diesem Zeitpunkt lebte die 71-jährige Regine Normann noch in Oslo, und ich gehe ganz fest davon aus, dass sie selbst noch im Fram-Museum gewesen ist.
Quellen
(1) „Varmeste lykkeønsking. I taknemlighet i deres frugtbringende virksomhet Fridtjof Nansen“ – Telegramm von Fridtjof Nansen an Regine Normann am 30.06.1927. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(2) „Jeg stor paa landeveien ovenom verftet og ser paa Roald Amundsens nye polarskute, og uvilkaarlig glir tanken over paa den gamle, kjendte av hele nationen elskede „Fram“. Lykkeskuten som har baaret Norges navn fra pol til pol. Mon en eneste en av alle os som fik være tilskuer, nogensiende kan glemme solskindagen, da „Fram“ liten og veirslaat med svære skrammer efter isskuringen gled ind paa havnen! […] Tæt ved verftet med den nye polarskuten staar et skur. Der inde og ute under sneen ligger nu alt som kunde nyttiggjøres og fjernes fra gamle „Fram“. Det skal brukes til Roald Amundsens skute hører jeg. […]“ Zeitungsartikel in der Tidens Tegn mit dem Titel „Frem“ von Regine Normann vom 18.02.1917. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(3) „Da hr. Roald Amundsen, saa vidt os bekjendt personlig utruster sit nye skib uten spor av offentlige bidrag, maate man ærligst henstille til ham gjennem vort ærede forsvarsdepartement, om han velvillig for sakens interesses skyld vil tilbakelevere de fjernede gjenstande, idet det ansees for givet, at h. Roald Amundsen maa holdes skadesløs.“ – Zeitungsartikel, unterzeichnet von Chr. Christensen, Vorstand der Kristiania sjømandsforening, in Tidens Tegn am 23. Februar 1917. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(4) „Da det er foreningens hensigt at arbeide for skibets opbevarelse i dets oprindelige skikkelse, men man hertil trænger pekuniær støtte, vil bestyrelsen offentiggjøre et tilsvar til Dem i Tidens Tegn en av de første dage for paa denne maaten samtidig at reklamere litt for saken.“ – Brief der Christiania Sjømandsforening an Regine Normann, 23.02.1917. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(5) „Samtidig opfordrer jeg paa det instændigste Kristiania sjømandsforening at offentliggjøre i sin helhet besigtigelseskomiteens indberetning om den tilstand polarskibet Fram fandtes at være i den 17. januar 1917. Det er umyndiges arv og eie det her er tale om, og Norges ungdom – baade den som gror op idag og alle kommende slægter fremover – har ret til at kræve den hele, fulde Sandet.“ – Zeitungsartikel von Regine Normann in Tidens Tegn am 01.03.1917. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(6) Bericht von Christian Jensen über den Bau der Maud (PDF). Darin steht allerdings kein Wort davon, dass Teile der Fram verwendet wurden.
(7) Brief von Johan Anker an Regine Norman am 01.03.1917. Privatarchiv Regine Normann, Universitätsbibliothek Tromsø.
(8) frammuseum.no