Heute am 30. September ist der Inernationale Übersetzertag. Weil Hieronymus der Schutzheilige der Übersetzer ist, wird der Tag in Deutschland auch Hieronymustag genannt.
Gestern war ich aus diesem Anlass bei den „Gläsernen Übersetzerinnen“ in der Bücherhalle Elbvororte: Gabriele Haefs und Christel Hildebrandt haben simultan die ersten Absätze aus dem Roman „Rikka Gran“ von Ragnild Jølsen (1875-1908) aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt. Anschließend durfte das Publikum mit den beiden die Unterschiede diskutieren und ihnen über den Beruf der Übersetzerin Löcher in den Bauch fragen. (Ich hab mich natürlich ganz nebenbei gefragt, ob sich Ragnild Jølsen und Regine Normann in Kristiania (Oslo) kennen gelernt haben könnten…)
Mein persönlicher Beitrag zum Internationalen Übersetzertag ist meine Übersetzung einer Kindheitserinnerung von Regine Normann, die in besonderer Weise sehr gut zum heutigen Hieronymustag passt. Die Schriftstellerin und Lehrerin hatte diese Anekdote 1925 in ihrem Artikel in der Tageszeitung „Tidens Tegn“ (Abschrift på norsk!) verwendet, um für die staatliche Förderung von Schulbibliotheken zu kämpfen.
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Das Apfelfass
Erinnerungen an eine Kindheit auf den Vesterålen
Die Schaluppe des Gemeindevaters war von ihrer ersten Handelsfahrt nach Bergen zurück gekehrt, und unter den vielen Waren befand sich auch ein Fass voller Äpfel. Ob das Fass ein Geschenk vom Kaufmann war oder ob mein Onkel es gekauft hatte, um das Obst im Kramladen weiterzuverkaufen, habe ich vergessen. Ich erinnere mich nur daran, wie die Erwachsenen die riesigen köstlichen Äpfel aus dem Fass nahmen und sie vorsichtig auf ein weißes Laken legten, das sie zuvor auf dem Dachboden des Ladens ausgebreitet hatten.
Nun waren Äpfel in meiner Kindheit eine seltene Frucht. Zu Weihnachten erfreuten wir uns an ihrem Anblick und durften uns nur selten ein Stück davon schmecken lassen. Das eine oder andere Mal wanderte vielleicht mal ein ganzer Apfel zu uns Kindern; da fühlten wir uns sofort wie im Paradies und dachten an all die großen Apfelbäume, die übervoll behangen dort oben im Himmel auf uns warteten.
Und jetzt war war ein ganzes Fass voll davon mit dem Schiff angekommen, ohne dass es Weihnachten war. Die Äpfel erfüllten den ganzen Dachboden über dem Kramladen mit einem herrlichen Duft, und sie waren wunderschön anzusehen, wie sie da so gelb und rot auf dem schneeweißen Laken lagen, von der Sonne angestrahlt, die durchs Fenster schien.
Doch noch verlockender als die Äpfel war das leere Fass, denn es war von oben bis unten mit Zeitungen ausgeschlagen. Ich sah, wie eng bedruckt diese waren, und ich war mit meinen dreizehn Jahren so ausgehungert nach etwas zu lesen wie es eine wissbegierige, verträumte Göre in der Kindheit nur sein kann. Schulbibliotheken gab es zu der Zeit noch nicht. Es blieben nur die wenigen Lehrbücher, die Hauspostille, das Gesangsbuch und die Bibel, um diese Sehnsucht zu stillen. Ich schwor mir, jedes einzelne Wort zu lesen, das auf den Zeitungsseiten stand, mit denen das Fass ausgekleidet war – jedes einzelne Wort.
Am nächsten Mittag, als alle anderen schliefen, schlich ich mich in den Kramladen und sauste die Treppe zum Dachboden hinauf. Der Duft der Äpfel schlug mir entgegen, doch er erreichte meine Sine nicht und weckte keine Begierde. Mit eifrigen Fingern löste ich das Papier vom Fass; Seite für Seite bildeten die Zeitungen eine dicke Schicht, so dass es ein gehöriger Stapel wurde, den ich zu einer leeren Kiste am Fenster trug. Ich nahm eine Zeitungsseite vom Haufen und legte den Rest in die Kiste, um ihn zu verstecken, damit niemand auf die Idee kommen konnte, sich an meinem kostbaren Schatz zu vergreifen.
Endlich setzte ich mich hin um zu lesen. Doch so sehr ich auch auf das Papier starrte und so sehr ich mich anstrengte einen Sinn zu erkennen in dem, was ich sah, verstand ich doch kein einziges Wort – die Zeitung war in einer fremden Sprache gedruckt, die ich nie gelernt hatte.
Enttäuschungen hatte ich bis dahin schon viele erlebt, in den wenigen Jahren meines Erdenlebens, doch nichts hat mich je so hart getroffen. Ich war zu ausgehungert. Weinend legte ich die Zeitungsseite zu den anderen in der Kiste und ließ meinen Schatz zurück, der für mich plötzlich so unerreichbar war.
Vieles hat sich seitdem verändert. Die Schulen sind jetzt reicher an Lehrbüchern und Anschauungsmitteln. Und wir haben Schulbibliotheken! Es lässt sich kaum in Worte fassen, was für ein Glück es für eine Schule ist, eine Sammlung an Büchern zu haben, die man nehmen und wie eine Versicherung an die Kinder und Jugendlichen austeilen kann, damit sie sich reich und glücklich und warm lesen und gesunde Nahrung finden für das Übermaß an gefräßiger Wissbegierde, die in der Kindheit immer vorhanden ist.
Regine Normann (1925)
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