Arctic Pride! Und ich bin live dabei! Seit einer Woche weht vor dem Tromsøer Rathaus die Regenbogenfahne. Dass so etwas nicht selbstverständlich ist, weiß ich aus Hamburg, wo Lesben und Schwule lange darum kämpfen mussten, dass während der CSD-Woche ihre Flagge offiziell auf dem Rathausmarkt gehisst wurde. In Tromsø war dies schon bei der aller ersten Christopher-Street-Day-Aktionswoche ganz selbstverständlich der Fall – dieses erste Mal fand allerdings auch erst 2015 statt. 😉
Genau, die Tromsø Arctic Pride gibt es dieses Jahr erst zum zweiten Mal. Damit hat Tromsø das nördlichste und sicherlich auch winterlichste CSD-Festival der Welt etabliert. Und was für ein umfangreiches Programm das ehrenamtliche Orga-Team auf die Beine gestellt hat: 30 Veranstaltungen in 7 Tagen, und für jeden Geschmack ist was dabei: schräge Filme und coole Parties, aber auch ernste Diskussionen über die Situation homosexueller jugendlicher Flüchtlinge in Norwegen und höchst informative Vorträge über die nordnorwegische Schwulen- und Lesbengeschichte sowie die neueste norwegische Kinder- und Jugendliteratur mit dem Themenschwerpunkt Homosexualität und Geschlechtsidentität (darüber blogge ich später noch ausführlicher).
Und heute dann als Höhepunkt: die Parade!
Im letzten Jahr (also beim ersten Mal!) nahmen stolze 320 Menschen daran teil. Das sollte in diesem Jahr natürlich getoppt werden – und das ist mehr als gelungen! Ich selbst habe unterwegs so auf 1.000 Menschen getippt, die im Umzug mitgelaufen sind; die Veranstalter/innen schrieben vorhin im Netz etwas von 1.020 Teilnehmer/innen. Passt. 😉 (Zur Einordnung: Tromsø zählt knapp 74.000 Einwohner/innen.)
Hier kommt meine Fotostrecke von der heutigen Tromsø Artcic Pride Parade 2016:
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Ich wünsche der Tromsø Arctic Pride Parade 2017 mindestens eine Verdoppelung auf 2.000 Teilnehmer/innen, und denen wünsche ich dann eine wesentlich längere Route durch die Innenstadt, denn irgendwie war alles viel zu schnell vorbei. Ich sehe ganz klar das Potenzial, vor dem Rathaus eine kleine Ansprache übers Mikrofon (oder Megafon) zu halten und noch etliche weitere Straßen entlangzulaufen, um weitere markante Punkte zu kreuzen – warum nicht sogar auf die Brücke bis zur Mitte gehen und dem ankommenden Hurtgrutenschiff zujubeln? 😉
In exakt 14 Tagen beginnt in Tromsø die Polarnacht (und dauert bis zum 15. Januar 2017). Zurzeit werden die Tage hier also rapide kürzer, was bedeutet, dass sich Sonnenaufgänge bequem zwischen 9 und 10 Uhr morgens beobachten lassen, Sonnenuntergänge dann schon wieder zwischen 13 und 14 Uhr.
Und die Sonne zieht noch einmal alle Register und verabschiedet sich in den schönsten Farben. Meine Top-10-Aufnahmen der vergangenen Tage hab ich jetzt für Euch rausgesucht. Übrigens: Alle Farben sind echt!
Zugegeben, das letzte Motiv ist nicht die Sonne, sondern die Bibliotek. Ein kleiner Hinweis darauf, dass ich bereits an einem Artikel über die Kulturstadt Tromsø arbeite… 😉
Regine Normann: Rådløs.
In: Min hvite gut og andre fortællinger.
Aschehoug, Kristiania 1922, S. 41-45. Aus dem Norwegischen übersetzt von Dörte Giebel
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Hilflos
Ich hatte Pausenaufsicht. Schlotternd vor Kälte beobachtete ich die grölenden Bälger und wusste, dass nur eine Tasse Kaffee mich retten konnte. Doch dafür musste erst einmal die Glocke läuten.
Da kam ein Mann auf mich zugerannt. Er trug Arbeitskleidung, erschien mir aber alles in allem sauber und gepflegt.
— Ich bin der Vater von Toralf, hechelte er und lüftete seinen Hut. Ich erwiderte seinen Gruß, blieb stehen und wartete darauf, dass er loslegte. Aber er starrte mich einfach nur an, stumm, bleich und so neben der Spur, dass ich unwillkürlich nach ein paar begütigenden Worten zu suchen begann, die ich über seinen Jungen sagen könnte, um dem armen Mann auf die Sprünge zu helfen.
— Toralf ist sehr gescheit und ein braves Kind, mit dem ich wirklich keine Mühe habe. Und er wirkt so ausgleichend auf seine Kameraden, sagte ich. Ein lautes Gejohle erklang vom anderen Ende des Schulhofs. Ein paar Lausebengel hatten eine Glitschbahn angelegt und schlitterten wild durcheinander und natürlich ineinander. Ich rannte los.
Als sich der Lärm gelegt und ich das Menschenknäuel auseinandergezogen hatte, stand der Mann unverändert da, immer noch genau so aufgelöst und stumm, und starrte mich an. Was in aller Herrgotts Namen machte ihn denn so fertig? Ich ging in Gedanken alle Tage, Wochen und Monate durch. Hatte ich die Hand gegen seinem Jungen erhoben oder hatte jemand irgend so etwas über mich verbreitet, weshalb er nun kam und mich zur Rede stellen wollte?
Doch ich grübelte vergebens, mir fiel einfach nichts ein, was es wert war, sich so aufzuregen, deshalb drehte ich mich um und setzte unverdrossen meine Runde über den Schulhof fort, mit diesem Mann hartnäckig an meiner Seite. Es war ein grauer, glanzloser Tag mit einem eiskalten Nordwind, der uns den Sand ins Gesicht trieb. Die Jungs blieben davon unbeeindruckt und rannten wie besessen über den Hof, ohne müde zu werden.
Ich sagte nichts und er genau so wenig. Er war vom Land in die Stadt gezogen, mit seiner Frau und deren sechs Jahre alten Sohn, und an dem Tag, als Toralf an unsere Schule kam, entschuldigte sich seine Mutter bei mir, weil er nur diesen Bauerndialekt spräche.
Im ersten Jahr kam sie oft mit in den Untericht, denn sie hatte ja nur den einen Jungen und wollte ihm so gern bei den Hausaufgaben helfen. Sie kannte sich selbst mit der Aussprache vieler Wörter nicht aus und dachte, Toralf würde sie auf den Arm nehmen, als sich seine Ausrucksweise veränderte. So begann sie selbst am Unterricht aktiv teilzunehmen, natürlich sehr zur Belustigung der Jungs. Toralf war das alles sehr peinlich und er konnte sie schließlich dazu bewegen, zu Hause zu bleiben.
Das und noch einiges andere ging mir durch den Kopf, während ich mit jedem Schritt mehr hoffte, dass neben mir endlich Klartext gesprochen würde.
Schließlich klingelte es. Nur konnte ich ihn ja nicht einfach stehen lassen, um mir den ersehnten Kaffee zu genehmigen, also blieben wir Seite an Seite, als wir der Klasse folgten. Alle Kolleginnen und Kollegen schielten zu uns rüber. Ich schaute unverhohlen zurück und lachte innerlich. Es war mehr als ungewöhnich, dass sich ein Vater hier blicken ließ, und dann auch noch in Arbeitskluft – kein Wunder, dass alle dachten, er hätte ein gewaltiges Hühnchen mit mir zu rupfen.
Zurück im Klassenraum stellte ich ihm einen Stuhl an den Rand und bat ihn, Platz zu nehmen. Doch er klemmte sich neben seinen Sohn ans Pult, knetete seine Finger und starrte mich weiter wortlos an.
Ich begann zu unterrichten. Wie endlos sich eine Stunde hinziehen kann mit so einem Zuhörer. Die kleinste Unruhe wuchs innerlich zur unkontrollierbaren Raserei, jedes Scharren mit den Schuhen wurde ein kaum auszuhaltender Lärm.
Doch nicht für ihn, er saß einfach nur da und schien gar nicht mitzubekommen, wie die Kinder sich machten. Stumm und mit fest gefalteten Händen starrte er Richtung Lehrerpult, als ob sein Leben davon abhinge, dass ich dort stand.
Wie schlugen uns allesamt durch die Stunde, und nicht nur ich, auch die Schüler waren froh, als es zur Pause klingelte. Ich ermahnte die Klasse beim Rausgehen, sich auf dem Schulhof gesittet zu benehmen. Ich selbst brauchte jetzt wirklich einen Kaffee und wollte gerade Richtung Lehrerzimmer aufbrechen, als der Mann mit beiden Händen meinen Arm umklammerte.
— Gehen Sie nicht, Fräulein, rief er wie in Todesangst, der Schweiß lief ihm von der Stirn.
— Um Himmels Willen, Sie müssen mir schon sagen, worum es geht, sagte ich freundlich und klopfte ihm mit der freien Hand ermunternd auf die Schulter.
Da schloss er die Tür hinter den Jungs um sicherzustellen, dass er mit mir allein war. Und endlich brach es aus ihm heraus:
— Meine Frau bekommt ein Baby und ich halte es zu Hause nicht aus, all die Schreie, all die Schmerzen, die sie meinetwegen erleiden muss.
— Ach Du liebe Güte, darum geht es! Ich überredete ihn, sich noch einmal im Klassenraum niederzulassen, während ich rasch die Straße runter laufen wollte, um zu schauen, wie es stand. Es war ja nur ein kurzer Weg und in der Pause zu schaffen.
— Würden Sie das für mich tun? fragte er, mit Tränen in der Stimme.
Als ich zurück kam, saß er in der gleichen Haltung am Pult.
— Da liegt ein kleines Mädchen bei Ihnen zu Hause und verlangt danach, ihren Vater zu sehen, sagte ich.
Wie der Blitz war er vom Stuhl hoch, an mir vorbei und aus der Tür, ohne Gruß und ohne Hut. Der blieb neben dem Tischbein zurück.
Regine Normann (1867-1939) war die erste Schriftstellerin aus Nordnorwegen, die es zu nationaler Bekanntheit gebracht hat. Ihr erster Roman „Krabbevåg“ (Krabbenbucht) spielt in ihrer Heimat auf den Vesterålen. Als sie ihn 1905 veröffentlichte, arbeitete sie bereits seit vielen Jahren in Oslo (damals noch Kristiania) als Lehrerin. Als junge Frau war sie allein in die Hauptstadt gezogen – nicht nur um ein Lehramtsstudium zu absolvieren, sondern auch um ihrer unglücklichen Ehe zu entkommen. Ihr 21 Jahre älterer und streng gläubiger Mann hatte ihr das Schreiben verboten, so dass sie es nur heimlich in einer Höhle (die heute nach ihr benannt ist) tun konnte . Dank des ersten Honorars vom Verleger konnte sie sich schließlich ihre Scheidung leisten…
Schreiben und Unterrichten waren die beiden Leidenschaften von Regine Normann. Sie arbeitete über 30 Jahre lang, bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1932, als Lehrerin an der Sofienberg Schule in Oslo. Parallel dazu erschienen von ihr in dieser Zeit 18 Bücher, neben zahlreichen Romane auch mehrere Bände mit nordnorwegischen Sagen und Märchen. Ihr erzählerisches Talent nutzte sie auch fürs Unterrichten und setzte sich darüber hinaus in vielerlei Hinsicht dafür ein, dass ihre Schüler Freude am Lesen gewannen und Zugang zu einer Vielzahl an Büchern hatten.
Im Jahr 1922 veröffentlichte Regine Normann mit „Min hvite gut“ (Mein weißer Junge) eine Sammlung von Kurzgeschichten, von denen die meisten bereits vorab in verschiedenen Zeitungen erschienen waren – geschrieben aus der Perspektive einer Lehrerin. Es ist anzunehmen, dass Regine Normann vieles davon so oder so ähnlich selbst erlebt habt.
Meine vierte und letzte Woche in Oslo hatte es in sich. Ich habe mich an Norwegens schwerste Zeiten in der jüngeren Geschichte herangewagt und an Orten Geschriebenes entdeckt, an denen ich so nicht damit gerechnet habe… (Das Ende dieses Artikels muntert dann wieder etwas auf, mit Literatur über Orte, über die nicht so oft Bücher geschrieben werden…)
1.
Das norwegische Widerstandmuseum
Hjemmefrontmuseet heißt es im Norwegischen. Das Widerstandsmuseum innerhalb der Akerhus-Festung erzählt anhand vieler Tonaufnahmen, Originalgegenstände und detailgetreu nachgebildeten Miniaturschauplätzen die fünf Jahre der deutschen Besatzung nach. Ich brauche zwei Tage, um mich durch die Ausstellung zu lesen, zu hören und zu schauen. Neben der beeindruckenden Anzahl an Widerstandszeitungen ist es vor allem ein durchlöchertes Blatt Toilettenpapier, dass mich sehr nachdenklich stimmt. Es hängt neben dem Nachbau einer Gefändniszelle in der Møllergata.
Petter Moen, der Herausgeber der größten illegalen Zeitung „Nytt London“, hat mit einer Nadel Buchstaben darein gestochen und die gestochenen Blätter im Lüftungsschacht versteckt. Auf diese Weise dokumentierte er 210 Tage seiner Gefangenschaft. nachdem die Gestapo ihn gefasst hatte. Er kam bei der Verschiffung nach Deutschland im Jahr 1944 ums Leben, sein Tagebuch wurde entdeckt und 1949 erstmal veröffentlicht, daraufhin in viele Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. Die komplette Fassung (PDF) ist hier online frei zugänglich.
2. 22. Juli Zentrum
Es braucht nicht viel, um die Erinnerung an das Attentat am 22. Juli 2011 in Oslo und auf Utøya wachzuhalten.
Das 22. Juli Zentrum im Regierungsviertel besteht aus einem Raum der Stille mit Portraitfotos aller Opfer, die Aufnahmen der Überwachungskamera, auf denen zu sehen ist, wie der Täter das Auto mit dem Sprengstoff vorfährt, einen weiteren Raum mit einem minutengenauen Zeitstrahl an den Wänden, gespickt mit Fotos, Tweets und weiteren Zitaten. Zur zusammenfassenden Einordnung dienen Auszüge aus der Urteilsverkündung. In der Mitte des Raumes stehen die verformten Überreste des Bombenautos wie eine mahnende Skulptur, an der letzten Wand hängt eine riesige Aufnahme der Insel vom Tag danach.
Am Ende der Ausstellung wartet ein Regal voller Bücher – die Verarbeitung des privaten wie nationalen Traumas ist in vollem Gange, zunächst in Form von journalistischen Dokumentationen und biografischen Texten der Opfer und Hinterbliebenen. Linn Ullmann hat in einem Interview gesagt, dass es wohl noch Jahre dauern kann, bis SchriftstellerInnen einen künstlerischen Ausdruck dafür finden…
3. Jakobmesse in der Kulturkirken Jakob
Und jetzt zu etwas Besinnlichem… Von September bis Mai wird jeden Sonntag Abend um 20 Uhr in der Kulturkirche Jakob in Grünerløkka eine freier Gottesdienst zelebriert – Seit 15 Jahren gibt es die Jakobmesse jetzt schon. Vier durchkomponierte Messen mit eigens getexteten und komponierten Stücken und Liturgien wechseln sich ab, eine Band mit Schlagzeug, Piano, Sängerinnen und wechselnden MusikerInnen spielt live, das Ganze ist „et samarbeid mellom Kirkelig Kulturverksted og studentprestene i Oslo“ (jakob.no).
Hätte ich die Jakobmesse gleich zu Beginn meiner Oslo-Zeit entdeckt, wäre ich alle vier Sonntage hier gewesen, so waren es nur zwei. Eine wunderbare Zeit der Besinnung mit einem besonderen Klangerlebnis.
4.
Deutsch-norwegischer Sprachtandem-Abend im Goethe-Institut
Auch diese Woche gibt es noch einen Tipp zum Norwegischlernen: Einmal im Monat lädt das Goethe-Institut in Oslo zu einem Sprachtandem-Abend ein, bei dem sich immer eineR, der/die fließend norwegisch spricht und deutsch lernen will, zu einer/m geselt, der/die fließend deutsch spricht und norwegisch lernen will. Sowohl AnfängerInnen als auch Fortgeschrittene sind willkommen! Schade, dass der Tandemabend nicht zu Beginn meiner vier Wochen stattfand, sondern an meinem allerletzten Oslo-Abend. Deshalb bin ich nämlich nicht hingegangen, weil ich es doch vorgezogen habe, noch einmal zu meinem Folkeuniversitetet-Kurs zu gehen und mich von allen zu verabschieden.
5. Ein Buch über das Hüttenklo
Der Norweger schreibt eigentlich über alles ein Buch. Sogar über das Klo in der Hütte. Warum ich das überhaupt entdeckt habe? Weil mein Liebster nach Oslo gekommen ist, um mich abzuholen. Und weil er in unserem Schrebergarten jüngst eine Hütte gebaut hat, hat er sich an unserem letzten Nachmittag in der Bücherei alle Bücher zu diesem Thema aus den Regalen geholt und durchgeblättert, während ich meine letzten Norwegisch-Hausaufgaben erledigte. Und siehe da! „Do på hytta – ideer til løsninger“ lässt uns beide schwärmen – von einem eigenen Plumpsklo auf unserer Parzelle! 😉
6. Tilbakeblikk – ein historischer Bildband über Tromsø
… und so komme ich zum Finale meiner vierwöchigen Lesereise durch Oslo. Und es ist kein Zufall, dass ein Bildband über Tromsø ist, der hier erwähnt wird – gefunden in einem sehr gut sortierten Atiquariat in der Storgata. In liebevoller Kleinarbeit sind darin alte und (zum Zeitpunkt des Erscheinens im Jahr 2000) neue Fotografien von zig Plätzen und Straßen in Tromsø zusammen gestellt – und ich werde schon im November die Gelegenheit haben, neue Fotos zu schießen und zu staunen, wie viel sich allein in den vergangenen 16 Jahren schon wieder verändert hat… Tschüss, Oslo! Tromsø, ich komme!
7.
Bergenstest in Oslo am 14. Januar 2017
Ich hab mich getraut! Ich habe mich am letzten Tag hier in Oslo zum Bergenstest am 14. Januar 2017 angemeldet! Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt liegt das (ganz neu erschienene!) B2-Grammatikübungsbuch von Cecilie Lønn immer direkt neben all der norwegischen Belletristik, die noch auf mich wartet… 😉
Meine dritte Woche in Oslo hat mich gedanklich weit in die Zukunft katapultiert und mich auf der anderen Seite mit einer Vergangenheit konfrontiert, über die ich viel zu wenig weiß und die uns allen hier und heute angesichts vieler grausamer Kriege auf der ganzen Welt ein Mahnmal sein muss. Lest selbst:
1. The Future Library – Framtidsbiblioteket in Oslo
Am Tag nach der Verkündung des Literaturnobelpreisträgers erreichte mich eine viel spannendere Nachricht: Der isländische Schriftsteller Sjón wird der diesjährige Autor sein, der ein Werk zur einhundertjährigen Bibliothek der Zukunft hinzufügt. Hva?!? Genau, in Oslo wächst gerade ein ganz besonderes Kunstwerk heran: Einhundert Jahre lang – von 2014 bis 2114 – wird Jahr für Jahr ein(e Schriftsteller/in eingeladen, ein unveröffentlichtes Manuskript einzureichen, das gemeinsam mit allen anderen einhundert Manuskripten bis 2114 unter Verschluss gehalten wird – und zwar in einem speziellen Raum der Deichmanske Hovedbibliotek, die zurzeit neben der Osloer Oper gebaut wird. Erst im Jahr 2114 werden alle 100 Manuskripte erstmalig veröffentlicht – nicht einmal die Initiatorin des Projektes liest sie zu ihren Lebzeiten!
Die schottische Künstlerin Katie Paterson zeichnet verantwortlich für dieses Jahrhundertgemeinschaftswerk, und sie hat sogar schon für das Papier vorgesorgt, welches in nunmehr 98 Jahren für den Druck dieser Bücher benötigt wird, indem sie in der Nordmarka Oslos eintausend Bäume gepflanzt hat. Die Bibliothek der Zukunft ist eines von mehreren „Slow Space“-Projekten im Kontext der Stadtentwicklung rund um Oslos ehemaligem Containerhafen Bjørvika. Ein literaturkundiges Kommittee um Katie Paterson unterstützt bei der jährlichen Auswahl eines/r Schriftsteller/in; im ersten Jahr wurde Margaret Atwood um einen Beitrag gebeten, im zweiten Jahr David Mitchell, jetzt also der isländische Poet Sjón. Ich bin gespannt, welche deutschen und welche norwegischen Autoren/innen vertreten sein werden – soweit ich deren Beteiligung überhaupt noch miterlebe… Die Menschen, die diese Werke der Future Library eines Tages lesen werden, sind heute noch nicht geboren.
Mich beeindruckt dieses Projekt ungemein! Ich kann gar nicht so gut in Worte fassen wie Sjón: „Am I a writer of my times? Who do I write for? How much does the response of the reader matter to me? What in a text makes it timeless? And for some of us it poses the hardest question of all: Will there be people in the future who understand the language I write in?“ (Quelle: futurelibrary.no)
2.
55pluss – Norwegens neue Zeitschrift
Ein Viertel der NorwegerInnen ist heute zwischen 55 und 70 Jahre alt ist. Sie alle bekommen nur die Anfänge wachsenden Framtidsbibliotek (siehe 1.) mit. Dafür gibt es hier und heute extra für sie eine neue Zeitschrift mit hohem literarischen Anspruch. Ich war zufällig beim Launch-Festakt von 55pluss in Oslo anlässlich der zweiten Ausgabe dabei, weil ich auf Facebook davon mitbekommen habe. Und am Abend hab ich dann erfahren, dass es tatsächlich ein reines Facebook-Event war. Und siehe da: Es war voll! Die Zielgruppe ist also via Facebook gut zu erreichen. 😉
Es war ein großartiger Literatur-Abend! Unter anderem haben Tom Egeland und Helene Uri, zwei über Norwegens Grenzen hinaus bekannte AutorInnen, die beide 10 bis 15 Jahren von ihrer Schriftstellerei leben können, sehr offen über ihren täglichen Schreibprozess gesprochen.
3.
Meine Lieblingsschriftstellerin aus Bodø
Eine ganz besondere Freude war es für mich, dass an diesem 55plus-Abend (siehe 2.) auch die nordnorwegische Schriftstellerin Elin Åsbakk Lind aus Bodø angereist war, um ihren ersten Roman vorzustellen. Ihr erinnert Euch vielleicht, dass ich erst vor wenigen Wochen eine von ihren Novellen ins Deutsche übersetzt habe: „Wortlos“.
Es war richtig schön, Elin persönlich kennen zu lernen und an diesem Abend ein bisschen mit ihr zu plaudern – und jetzt bin ich natürlich fix gespannt auf ihren Roman„Punktum midt i en vakker setning“, der übrigens auf den Lofoten spielt.
4.
Ein Widerstandskind erzählt
Motstandsbarn – Widerstandskind. Ich kannte das Wort bis zu diesem Abend (wir sind immer noch beim Festakt von 55pluss – siehe 2.) nicht. Dann kam Liv Riktor Lykkenborg auf die Bühne und erzählte von ihrer Kindheit in Oslo. Sie war drei Jahre alt, als der Krieg nach Oslo kam – genauer: als die Deutschen Oslo besetzten. Sie war sechs, als ihr Vater als Widerstandkämpfer inhaftiert wurde. Ihre Mutter musste nun allein die fünf Kinder durchbringen. Und als der Vater Jahre aus der Gefangenschaft kam, war zwar der Krieg vorbei, doch die Auswirkungen auf die Psyche aller Betroffenen waren katastrophal. Er misshandelte seine Kindern, schlug insbesondere Liv. Frieden gab es für das Mädchen nicht. Und so kämpft sie bis heute mit den Folgen ihrer traumatischen Kindheitserlebnisse.
Sehr behutsam wurde Liv Riktor Lykkenborg von ihrem Lektor interviewt, sie musste oft innehalten und schlucken. Vor Publikum so konkret über ihr Trauma zu sprechen, fiel ihr sichtlich nicht leicht. In der Pause kaufte ich mir spontan ihr Buch „Motstandsbarn. Med fars krigsinnsats i bagasjen“. Es wird mich Kraft kosten, es zu lesen. Doch wenn es um die psychischen Auswirkungen von Krieg auf Kinderseelen geht, müssen wir alle raus aus unserer Komfortzone und hinsehen und zuhören!
5.
Deichmanske Språkkafè
Ich wünsche es einem so hochaktuellen Buch wie „Motstandsbarn“ (siehe 4.), das es ins Deutsche übersetzt wird. Gleichzeitig finde ich es wichtig, es im Original lesen zu können. Meine Freundin Sarah hat es vor kurzem auf den Punkt gebloggt: „Languages give you new ideas because they offer you the capacity to see and explore issues that might otherwise never have become apparent.“ (cam.ac.uk)
Die öffentliche Bibliothek Deichmanske leistet in Oslo großartiges, wenn es um die Vermittlung des Norwegischen geht. Täglich gibt es in mindestens zwei Filialen ein zweistündiges kostenfreies Sprachtraining, mal vom Roten Kreuz organisiert, mal von Freiwilligen (oft pensionierte LehrerInnen) der Deichmanske Filialen. Jedes Mal sitzt an jedem Tisch mindestens einE freiwilligeR SprachtrainerIn, der die Runde aus 4 bis 8 Personen anleitet, Vokabeln erklärt, freundich korrigiert und vor allem: zum Sprechen ermuntert. Der Andrang ist groß, nicht immer finden ale einen Platz, denn die Räumlichkeiten fassen meistens nur so rund 30 Menschen, die seit mehr oder weniger vielen Monaten bzw. Jahren in Norwegen leben, arbeiten oder Arbeit suchen und vor allem: die Sprache lernen wollen. Ich bin in den vergangenen drei Wochen schon häufig dabei gewesen und habe tolle Menschen aus der ganzen Welt kennen gelernt!
6.
Bookcrossing Community Treffen
Apropos: Endlich habe ich mal echte BookcrosserInnen kennen gelernt! Jeden zweiten Donnerstag im Monat gibt es ab 17 Uhr bei LaBaguette im Osloer Hauptbahnhof ein offenes Treffen für alle, die Lust haben, Bücher nicht nur anonym weiterzugeben, sondern auch mal ein bisschen mit anderen Leseratten zu plaudern. Es war richtig spannend an diesem Abend, denn es war auch eine dabei, die schon mehrfach am NaNoWriMo teilgenommen hat. Das hab ich ja auch noch auf meiner Bucket List!
7.
Die Straßenzeitung von Oslo
Seit 2005 gibt es =Oslo, die Straßenzeitung, die monatlich von rund 500 registrierten Verkäufer/innen an durchschnittlich 30.000 LeserInnen verkauft wird. Vor ein paar Tagen habe ich auch endlich ein Exemplar gekauft, mit nem „hundrelappen“, wie dieser Geldschein auf norwegisch heißt, wovon die Hälfte beim/bei der Verkäufer/in bleibt. Ich mag das Konzept und lasse mich immer wieder gern von den persönlichen Geschichten beeindrucken, wenn Menschen sich aus der Scheiße arbeiten, weil sie mit der Zeitung in der Hand als registrierte Vekäufer/innen endlich wieder ein Stück Selbstwertgefühl gewinnen, eine sinnstiftende Tätigkeit und eine unterstützende Community.