Regine Normann: Hilflos (1922) – Übersetzung

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Regine Normann Min hvite gutRegine Normann: Rådløs.
In: Min hvite gut og andre fortællinger.
Aschehoug, Kristiania 1922, S. 41-45.

Aus dem Norwegischen übersetzt von Dörte Giebel

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Hilflos

   Ich hatte Pausenaufsicht. Schlotternd vor Kälte beobachtete ich die grölenden Bälger und wusste, dass nur eine Tasse Kaffee mich retten konnte. Doch dafür musste erst einmal die Glocke läuten.

   Da kam ein Mann auf mich zugerannt. Er trug Arbeitskleidung, erschien mir aber alles in allem sauber und gepflegt.

   — Ich bin der Vater von Toralf, hechelte er und lüftete seinen Hut. Ich erwiderte seinen Gruß, blieb stehen und wartete darauf, dass er loslegte. Aber er starrte mich einfach nur an, stumm, bleich und so neben der Spur, dass ich unwillkürlich nach ein paar begütigenden Worten zu suchen begann, die ich über seinen Jungen sagen könnte, um dem armen Mann auf die Sprünge zu helfen.

   — Toralf ist sehr gescheit und ein braves Kind, mit dem ich wirklich keine Mühe habe. Und er wirkt so ausgleichend auf seine Kameraden, sagte ich. Ein lautes Gejohle erklang vom anderen Ende des Schulhofs. Ein paar Lausebengel hatten eine Glitschbahn angelegt und schlitterten wild durcheinander und natürlich ineinander. Ich rannte los.

   Als sich der Lärm gelegt und ich das Menschenknäuel auseinandergezogen hatte, stand der Mann unverändert da, immer noch genau so aufgelöst und stumm, und starrte mich an. Was in aller Herrgotts Namen machte ihn denn so fertig? Ich ging in Gedanken alle Tage, Wochen und Monate durch. Hatte ich die Hand gegen seinem Jungen erhoben oder hatte jemand irgend so etwas über mich verbreitet, weshalb er nun kam und mich zur Rede stellen wollte?

   Doch ich grübelte vergebens, mir fiel einfach nichts ein, was es wert war, sich so aufzuregen, deshalb drehte ich mich um und setzte unverdrossen meine Runde über den Schulhof fort, mit diesem Mann hartnäckig an meiner Seite. Es war ein grauer, glanzloser Tag mit einem eiskalten Nordwind, der uns den Sand ins Gesicht trieb. Die Jungs blieben davon unbeeindruckt und rannten wie besessen über den Hof, ohne müde zu werden.

   Ich sagte nichts und er genau so wenig. Er war vom Land in die Stadt gezogen, mit seiner Frau und deren sechs Jahre alten Sohn, und an dem Tag, als Toralf an unsere Schule kam, entschuldigte sich seine Mutter bei mir, weil er nur diesen Bauerndialekt spräche.

   Im ersten Jahr kam sie oft mit in den Untericht, denn sie hatte ja nur den einen Jungen und wollte ihm so gern bei den Hausaufgaben helfen. Sie kannte sich selbst mit der Aussprache vieler Wörter nicht aus und dachte, Toralf würde sie auf den Arm nehmen, als sich seine Ausrucksweise veränderte. So begann sie selbst am Unterricht aktiv teilzunehmen, natürlich sehr zur Belustigung der Jungs. Toralf war das alles sehr peinlich und er konnte sie schließlich dazu bewegen, zu Hause zu bleiben.

   Das und noch einiges andere ging mir durch den Kopf, während ich mit jedem Schritt mehr hoffte, dass neben mir endlich Klartext gesprochen würde.

   Schließlich klingelte es. Nur konnte ich ihn ja nicht einfach stehen lassen, um mir den ersehnten Kaffee zu genehmigen, also blieben wir Seite an Seite, als wir der Klasse folgten. Alle Kolleginnen und Kollegen schielten zu uns rüber. Ich schaute unverhohlen zurück und lachte innerlich. Es war mehr als ungewöhnich, dass sich ein Vater hier blicken ließ, und dann auch noch in Arbeitskluft – kein Wunder, dass alle dachten, er hätte ein gewaltiges Hühnchen mit mir zu rupfen.

   Zurück im Klassenraum stellte ich ihm einen Stuhl an den Rand und bat ihn, Platz zu nehmen. Doch er klemmte sich neben seinen Sohn ans Pult, knetete seine Finger und starrte mich weiter wortlos an.

   Ich begann zu unterrichten. Wie endlos sich eine Stunde hinziehen kann mit so einem Zuhörer. Die kleinste Unruhe wuchs innerlich zur unkontrollierbaren Raserei, jedes Scharren mit den Schuhen wurde ein kaum auszuhaltender Lärm.

   Doch nicht für ihn, er saß einfach nur da und schien gar nicht mitzubekommen, wie die Kinder sich machten. Stumm und mit fest gefalteten Händen starrte er Richtung Lehrerpult, als ob sein Leben davon abhinge, dass ich dort stand.

   Wie schlugen uns allesamt durch die Stunde, und nicht nur ich, auch die Schüler waren froh, als es zur Pause klingelte. Ich ermahnte die Klasse beim Rausgehen, sich auf dem Schulhof gesittet zu benehmen. Ich selbst brauchte jetzt wirklich einen Kaffee und wollte gerade Richtung Lehrerzimmer aufbrechen, als der Mann mit beiden Händen meinen Arm umklammerte.

   — Gehen Sie nicht, Fräulein, rief er wie in Todesangst, der Schweiß lief ihm von der Stirn.

   — Um Himmels Willen, Sie müssen mir schon sagen, worum es geht, sagte ich freundlich und klopfte ihm mit der freien Hand ermunternd auf die Schulter.

   Da schloss er die Tür hinter den Jungs um sicherzustellen, dass er mit mir allein war. Und endlich brach es aus ihm heraus:

   — Meine Frau bekommt ein Baby und ich halte es zu Hause nicht aus, all die Schreie, all die Schmerzen, die sie meinetwegen erleiden muss.

   — Ach Du liebe Güte, darum geht es! Ich überredete ihn, sich noch einmal im Klassenraum niederzulassen, während ich rasch die Straße runter laufen wollte, um zu schauen, wie es stand. Es war ja nur ein kurzer Weg und in der Pause zu schaffen.

   — Würden Sie das für mich tun? fragte er, mit Tränen in der Stimme.

   Als ich zurück kam, saß er in der gleichen Haltung am Pult.

   — Da liegt ein kleines Mädchen bei Ihnen zu Hause und verlangt danach, ihren Vater zu sehen, sagte ich.

   Wie der Blitz war er vom Stuhl hoch, an mir vorbei und aus der Tür, ohne Gruß und ohne Hut. Der blieb neben dem Tischbein zurück.

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Regine Normann Min hvite gut

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Original: Regine Normann: Rådløs.
In: Min hvite gut og andre fortællinger. Aschehoug, Kristiania 1922, S. 41-45.


Über Regine Normann

Quelle: https://www.flickr.com/photos/130961247@N06/16455684862/
flickr.com/photos/130961247@N06/16455684862/

Regine Normann (1867-1939) war die erste Schriftstellerin aus Nordnorwegen, die es zu nationaler Bekanntheit gebracht hat. Ihr erster Roman „Krabbevåg“ (Krabbenbucht) spielt in ihrer Heimat auf den Vesterålen. Als sie ihn 1905 veröffentlichte, arbeitete sie bereits seit vielen Jahren in Oslo (damals noch Kristiania) als Lehrerin. Als junge Frau war sie allein in die Hauptstadt gezogen – nicht nur um ein Lehramtsstudium zu absolvieren, sondern auch um ihrer unglücklichen Ehe zu entkommen. Ihr 21 Jahre älterer und streng gläubiger Mann hatte ihr das Schreiben verboten, so dass sie es nur heimlich in einer Höhle (die heute nach ihr benannt ist) tun konnte . Dank des ersten Honorars vom Verleger konnte sie sich schließlich ihre Scheidung leisten…

Regine Normann beim Märchenerzählen. Quelle: http://digitaltmuseum.no/011012625148
digitaltmuseum.no/011012625148

Schreiben und Unterrichten waren die beiden Leidenschaften von Regine Normann. Sie arbeitete über 30 Jahre lang, bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1932, als Lehrerin an der Sofienberg Schule in Oslo. Parallel dazu erschienen von ihr in dieser Zeit 18 Bücher, neben zahlreichen Romane auch mehrere Bände mit nordnorwegischen Sagen und Märchen. Ihr erzählerisches Talent nutzte sie auch fürs Unterrichten und setzte sich darüber hinaus in vielerlei Hinsicht dafür ein, dass ihre Schüler Freude am Lesen gewannen und Zugang zu einer Vielzahl an Büchern hatten.

Im Jahr 1922 veröffentlichte Regine Normann mit „Min hvite gut“ (Mein weißer Junge) eine Sammlung von Kurzgeschichten, von denen die meisten bereits vorab in verschiedenen Zeitungen erschienen waren – geschrieben aus der Perspektive einer Lehrerin. Es ist anzunehmen, dass Regine Normann vieles davon so oder so ähnlich selbst erlebt habt.


 

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