Elin Åsbakk Lind
Original-Titel: Ordløs, veröffentlicht 2014
Aus dem Norwegischen übersetzt von Dörte Giebel
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Wortlos.
Du sollst wissen, dass bei uns im Haus ein neuer Mann eingezogen ist. In die Wohnung über mir. Diese Krachmacherfamilie mit den Schreikindern, die du so gehasst hast, ist endlich ausgezogen, und der Neue ist sehr still, doch hin und wieder kann ich ihn über den Fußboden gehen hören. Er geht umher, nachts. Leise. Aber lange.
Zuerst dachte ich, dass er einfach ein bisschen Zeit braucht, um sich zu sortieren, es braucht Zeit, um sich nach einem Umzug zu sortieren, das weißt du ja am besten. Doch jetzt, nach sechs Wochen, geht er immer noch nachts in der Wohnung herum. Manchmal geht er ununterbrochen, ruhelos, in einem fort. In der Regel jedoch mit langen Pausen. Ich frage mich dann immer, in welchen Abgrund er da schaut, an dem er mitten im Zimmer stehen bleibt.
Du sollst wissen, dass er ganz anders ist als du. Du hättest ihn nicht gemocht. Seine Haare sind immerzu durcheinander, er hat eigentlich überall Haare, einen Bart, den er einfach wuchern lässt. Die Haare kommen unter seinem Hemd hervor und auf seinen Händen wachsen sie auch, in Sternformation, stell dir das vor, sehr eigenartig.
Mama rief gestern an und blieb ganz schön lange dran. Wir haben eine Art Abkommen, dass sie das ruhig machen kann, obwohl ich nicht spreche, ein stillschweigendes Abkommen, kann man sagen, nachdem ich einfach weiter ans Telefon gegangen war, wenn sie durchklingelte. Und sie hat offensichtlich Redebedarf, und indem sie noch mehr spricht als sowieso schon, kann sie mein Schweigen kompensieren, als ob die Stille sie bedroht, als ob sie etwas in ihr anpiekst, ihre verborgene Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen. In der Regel antworte ich ihr nach ihrem Monolog mit einer SMS. So wird daraus ein Gespräch. Zum Beispiel: „Was du da über meinen Onkel erwähnt hast, solltest du ihn nicht doch besser bitten, damit zum Arzt zu gehen? Übrigens, bei mir ist alles in Ordnung.“
In Ordnung. Nicht gut. Ich hoffe, das ist angekommen.
Das erste Mal, als ich den Mann aus der Wohnung über mir traf, wusste er nicht, dass ich nicht spreche, die Gerüchteküche war dieses Mal nicht, wie sonst, schneller als ich. Er kam von der Straße rein, sah mich am Briefkasten stehen, ging direkt auf mich zu und gab mir die Hand. Sagte, er heiße Gaute und sei neu hier. Ich drückte seine Hand, die selbst an einem so kalten Wintertag ganz warm war, lächelte und holte meinen Block raus.
Entschuldige, ich spreche nicht. Ich heiße Anita und wohne in 108b. Herzlich willkommen.
Er las den Zettel, nickte mit unverändertem Gesichtsausdruck und sagte:
Kannst du nicht sprechen oder willst du nicht sprechen?
Er ist der Erste, der mich das gefragt hat. Alle, die mich nicht kennen, denken, ich hätte irgendeinen körperlichen Makel, der dafür sorgt, dass ich nicht sprechen kann, obwohl meine Formulierung Ich spreche nicht doch eigentlich darauf hinweist, dass es eine bewusste Entscheidung ist, so wie ein stures Kind es auch ausdrücken würde.
Will nicht, schrieb ich.
Er nickte von neuem, wieder ohne erkennbare Regung.
Du sollst wissen, dass ich in genau dem Moment dachte, dass ich mit diesem Mann einen Tee trinken sollte und noch viel mehr, zum Beispiel herausfinden, ob es nicht schön wäre, an seiner Brust zu liegen, mit den vielen Haaren, oder ob die einfach nur kitzeln. Du weißt, dass ich das ja nicht wissen kann, weil ich bislang nur an deiner immer glattrasierten Brust gelegen habe, warum hast du das eigentlich gemacht, dieses andauernde Abrasieren aller Haare? Und mehr noch: Könnte es sein, dass seine Brusthaare auch so magisch angeordnet sind wie auf seinen Händen, könnte es sein, dass es da noch einen weitere Stern gibt?
Du sollst wissen, dass ich ihm nie erzählt habe, dass ich aufgehört habe zu sprechen, weil du gegangen bist. Aber ich habe ihm gesagt, dass Worte einfach nicht ausreichen, dass sie bedeutungslos geworden sind. Es ist, als ob etwas mit ihnen auf dem Weg nach draußen passiert. Nachdem sie in meinen Kopf geschwommen sind oder in meinem Herz oder wo auch immer sie in mir fließen.
Irgendwie so. Wie auch immer.
In mir hörte sich doch alles ganz exakt an. Die Wörter. Ganz real und als ob sie die Wahrheit widerspiegelten. Aber in dem Augenblick, in dem sie sich in einer Reihe formierten und hinaus schlichen, geriet alles durcheinander.
In mir fließt alles, wenn ich daran denke. Wörter. Sie stellen sich in eine Schlange an und warten, in meinem Herzen. Ich hab das mit dem Reden eigentlich nie gut hingekriegt, doch wenn das Herz gebrochen ist, ist es nicht verwunderlich, dass Unsinn dabei herauskommt. Das versteht sich von selbst. Die Wörter können auf dem Weg nach draußen noch relativ gut drauf sein, doch wehe ein Wort findet unterwegs heraus, dass mir für genau dieses der Mut fehlt. Das Liebe-Wort war schon immer ein Querulant. Versuch du doch mal „Ja, aber ich liebe dich doch!“ zu sagen, auf eine ehrliche und aufrichtige Art und Weise, wenn „liebe“ sich duckt und hinter dem Rücken von „dich“ versteckt oder, noch schlimmer, zurück ins Herz rennt, zusammen mit einem Bündel verwirrter gestotterter Wörter, und alles, was rauskommt ist:
Ja, aber…
Darum es nur ein jämmerliches „Ja, aber…“, was du als letztes Wort von mir gehört hast, das einzige, was ich zu sagen hatte, als du gingst. Und ich ging dazu über, Zettel zu schreiben. Eines Tages werde ich all diese Zettel zusammensuchen, sie dir in großen Säcken schicken und einen Schlussstrich ziehen.
Seine Wohnung hat genau den gleichen Grundriss wie unsere. Die gleichen Wände, die gleichen Fenster, die gleiche Aussicht. Trotzdem war es, als ob ich eine andere Welt betrete. Drei Paar Schuhe in der Diele, ich weiß nicht, was es war, aber die Schuhe haben mich ein wenig durcheinander gebracht, sie machten mich traurig. Da war ein Paar Lederstiefel, das hing da mit Laschen und Schnürsenkeln und allem, ein Paar Joggingschuhe und ein paar Halbschuhe aus Leder. Sie waren so groß, wie sie dort standen, und doch so klein. Ich hielt mich am Schreibblock fest und wollte etwas dazu sagen, doch die Worte in mir waren ungenügend, sie ergaben keinen Sinn, sie passten nicht, nicht einmal auf ein Stück Papier, darum ging ich weiter in die Wohnung hinein. Er hatte den üblichen Fernseher mit Flachbildschirm und die übliche Stereoanlage im Wohnzimmer und eine nicht unerhebliche Büchersammlung, doch einfach so zu den Regalen hingehen und nach meinen Lieblingsbüchern Ausschau halten, das fühlte sich irgendwie zu intim an. Also sah ich mich nach der Stelle um, an der er nachts stehen blieb, als ob es sich dabei um einen Riss im Boden handeln würde.
Kaffee oder Tee, rief er, als rechnete er mit einer Antwort. Und eine Nanosekunde lang dachte ich, wie einfach es jetzt wäre zu antworten, so unglaublich leicht, aber bevor ich dazu kam, den Mund zu öffnen, stand er lächelnd im Türrahmen.
Entschuldige. Daumen hoch für Kaffee, Daumen runter für Tee, lachte er.
Ich weiß nicht, warum ich die Zettel sortierte, als ich wieder zurück in meiner Wohnung war. Ich sortierte sie in verschiedene Beutel, in einen Wut-Beutel, einen Ich-liebe-dich-Beutel, einen Was-ich-dir-immer-sagen-wollte-aber-nie-sagte-Beutel, einen Was-wir-immer-mal-zusammen-machen-wollten-aber-nie-getan-haben-Beutel. Als ich alle Zettel durchsortiert hatte, blieb ein kleiner Haufen über, den ich nirgends unterbringen konnte, ich-verstand-mich-selbst-nicht.
Du sollst wissen, dass man mit seinen Händen sehr viel sagen kann. Ich glaube, dass ich dass mit dir nie gemacht habe, mit den Händen reden? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mir meiner Hände überhaupt bewusst war, während ich mit dir zusammen war, ich glaube, die waren irgendwie auf Autopilot programmiert. Auf jeden Fall macht das was mit den Berührungen, wenn man nicht spricht. Ich finde das sehr befreiend. Kein „liebe dich“ kommt dazwischen, kein magst du es so, schneller, langsamer, los, mehr, mehr, mehr. Nur Atem und sprechende Hände.
Du sollst wissen, dass ich mit meinem Zeigefinger an seinen Lippen entlang strich, langsam, als ob ich sie auf einem weißen Blatt Papier zeichnete, solangsam, dass die Zeichnung sich währenddessen verändern konnte, die Mundwinkel bogen sich langsam nach oben, Lippen, die sich öffneten, ein Leuchten zwischen den Zähnen, als ich das Lächeln gezeichnet hatte, und du sollst wissen, dass er sehr gut verstand, was ich sagte.
Ganz ohne Worte.
Elin Åsbakk Lind
Erst vor wenigen Tagen habe ich die norwegische Schriftstellerin Elin Åsbakk Lind für mich entdeckt. Auf ihrem Blog Lykkelica fand ich diese wunderbare Novelle „Ordløs„, die mich gleich beim ersten Lesen sehr berührt hat. Ich beschloss, sie ins Deutsche zu übersetzen, zumal Elin hierzulande noch völlig unentdeckt zu sein scheint. Die intensive Auseinandersetzung mit einem Text im Rahmen einer Übersetzung war für mich als Literaturwissenschaftlerin noch einmal eine völlig neue und sehr aufregende Erfahrung. Elin hat mir die Erlaubnis gegeben, die Übersetzung ihrer Novelle hier in meinem Blog zu veröffentlichen.
Elin Åsbakk Lind, geboren 1972, lebt in der Nähe von Bodø und hat bislang als Journalistin unter anderem für die Tageszeitungen Norlands Framtid und Norlandsposten gearbeitet. Im Jahr 2014 erschien ihre erstes Buch – die Novellensammlung „En fremmed jeg kjenner„. Wie der Zufall es will, erscheint in Kürze – im Oktober 2016 – ihr erster Roman „punktum i midt i en vakker setning“ (Quintano Verlag: Ankündigungsvideo), auf den ich sehr gespannt bin.
Hier findet Ihr Elin im Netz:
Blog: lykkelica.blogspot.de
Facebook: facebook.com/Elinaasbakklind
Twitter: @elinlind
Mit dieser Übersetzung eröffne ich übrigens eine neue Reihe in diesem Blog: In nächster Zeit möchte ich mich intensiver mit Schriftstellerinnen aus Nordnorwegen beschäftigen…
[…] Eine ganz besondere Freude war es für mich, dass an diesem 55plus-Abend (siehe 2.) auch die nordnorwegische Schriftstellerin Elin Åsbakk Lind aus Bodø angereist war, um ihren ersten Roman vorzustellen. Ihr erinnert Euch vielleicht, dass ich erst vor wenigen Wochen eine von ihren Novellen ins Deutsche übersetzt habe: „Wortlos“. […]
Liebe Dörte Giebel,
Spät, aber nicht zu spät habe ich den Literaturblogg nordlieben entdeckt. Hvad fint og spænnende den er ( jag kan inte prata eller skriva på norska, endast svenska eller danska. Men jag tycker mycket om att läsa norska böcker , då och då med hjälp av ordboken om det annars blir för svårt ) Wir hatten über Instagram bereits Kontakt und ich bin gerade dabei, „Kein Fjord so tief wie mein Herz“ zu lesen. Mir gefällt die Auswahl mit dieser Bandbreite an Stimmungen, Charakteren und Blickwinkeln auf das Thema Liebe, Nähe, Sehnsucht ungemein. Demnächst auf meinem Instagram Account… Kommendes Wochenende ist großes Familientreffen. Vielleicht schaffe ich es erst danach.
Med många vänliga hälsningar, Helga
Liebe Helga, wie schön, nach so langer Zeit hier einen frischen Kommentar zu bekommen! Ich bin schon sehr gespannt auf Deinen Instagram-Beitrag zur Anthologie! Alt godt, Dörte