Meine dritte Woche in Oslo hat mich gedanklich weit in die Zukunft katapultiert und mich auf der anderen Seite mit einer Vergangenheit konfrontiert, über die ich viel zu wenig weiß und die uns allen hier und heute angesichts vieler grausamer Kriege auf der ganzen Welt ein Mahnmal sein muss. Lest selbst:
1.
The Future Library – Framtidsbiblioteket in Oslo
Am Tag nach der Verkündung des Literaturnobelpreisträgers erreichte mich eine viel spannendere Nachricht: Der isländische Schriftsteller Sjón wird der diesjährige Autor sein, der ein Werk zur einhundertjährigen Bibliothek der Zukunft hinzufügt. Hva?!? Genau, in Oslo wächst gerade ein ganz besonderes Kunstwerk heran: Einhundert Jahre lang – von 2014 bis 2114 – wird Jahr für Jahr ein(e Schriftsteller/in eingeladen, ein unveröffentlichtes Manuskript einzureichen, das gemeinsam mit allen anderen einhundert Manuskripten bis 2114 unter Verschluss gehalten wird – und zwar in einem speziellen Raum der Deichmanske Hovedbibliotek, die zurzeit neben der Osloer Oper gebaut wird. Erst im Jahr 2114 werden alle 100 Manuskripte erstmalig veröffentlicht – nicht einmal die Initiatorin des Projektes liest sie zu ihren Lebzeiten!
Die schottische Künstlerin Katie Paterson zeichnet verantwortlich für dieses Jahrhundertgemeinschaftswerk, und sie hat sogar schon für das Papier vorgesorgt, welches in nunmehr 98 Jahren für den Druck dieser Bücher benötigt wird, indem sie in der Nordmarka Oslos eintausend Bäume gepflanzt hat. Die Bibliothek der Zukunft ist eines von mehreren „Slow Space“-Projekten im Kontext der Stadtentwicklung rund um Oslos ehemaligem Containerhafen Bjørvika. Ein literaturkundiges Kommittee um Katie Paterson unterstützt bei der jährlichen Auswahl eines/r Schriftsteller/in; im ersten Jahr wurde Margaret Atwood um einen Beitrag gebeten, im zweiten Jahr David Mitchell, jetzt also der isländische Poet Sjón. Ich bin gespannt, welche deutschen und welche norwegischen Autoren/innen vertreten sein werden – soweit ich deren Beteiligung überhaupt noch miterlebe… Die Menschen, die diese Werke der Future Library eines Tages lesen werden, sind heute noch nicht geboren.
Mich beeindruckt dieses Projekt ungemein! Ich kann gar nicht so gut in Worte fassen wie Sjón: „Am I a writer of my times? Who do I write for? How much does the response of the reader matter to me? What in a text makes it timeless? And for some of us it poses the hardest question of all: Will there be people in the future who understand the language I write in?“ (Quelle: futurelibrary.no)
2.
55pluss – Norwegens neue Zeitschrift
Ein Viertel der NorwegerInnen ist heute zwischen 55 und 70 Jahre alt ist. Sie alle bekommen nur die Anfänge wachsenden Framtidsbibliotek (siehe 1.) mit. Dafür gibt es hier und heute extra für sie eine neue Zeitschrift mit hohem literarischen Anspruch. Ich war zufällig beim Launch-Festakt von 55pluss in Oslo anlässlich der zweiten Ausgabe dabei, weil ich auf Facebook davon mitbekommen habe. Und am Abend hab ich dann erfahren, dass es tatsächlich ein reines Facebook-Event war. Und siehe da: Es war voll! Die Zielgruppe ist also via Facebook gut zu erreichen. 😉
Es war ein großartiger Literatur-Abend! Unter anderem haben Tom Egeland und Helene Uri, zwei über Norwegens Grenzen hinaus bekannte AutorInnen, die beide 10 bis 15 Jahren von ihrer Schriftstellerei leben können, sehr offen über ihren täglichen Schreibprozess gesprochen.
3.
Meine Lieblingsschriftstellerin aus Bodø
Eine ganz besondere Freude war es für mich, dass an diesem 55plus-Abend (siehe 2.) auch die nordnorwegische Schriftstellerin Elin Åsbakk Lind aus Bodø angereist war, um ihren ersten Roman vorzustellen. Ihr erinnert Euch vielleicht, dass ich erst vor wenigen Wochen eine von ihren Novellen ins Deutsche übersetzt habe: „Wortlos“.
Es war richtig schön, Elin persönlich kennen zu lernen und an diesem Abend ein bisschen mit ihr zu plaudern – und jetzt bin ich natürlich fix gespannt auf ihren Roman „Punktum midt i en vakker setning“, der übrigens auf den Lofoten spielt.
4.
Ein Widerstandskind erzählt
Motstandsbarn – Widerstandskind. Ich kannte das Wort bis zu diesem Abend (wir sind immer noch beim Festakt von 55pluss – siehe 2.) nicht. Dann kam Liv Riktor Lykkenborg auf die Bühne und erzählte von ihrer Kindheit in Oslo. Sie war drei Jahre alt, als der Krieg nach Oslo kam – genauer: als die Deutschen Oslo besetzten. Sie war sechs, als ihr Vater als Widerstandkämpfer inhaftiert wurde. Ihre Mutter musste nun allein die fünf Kinder durchbringen. Und als der Vater Jahre aus der Gefangenschaft kam, war zwar der Krieg vorbei, doch die Auswirkungen auf die Psyche aller Betroffenen waren katastrophal. Er misshandelte seine Kindern, schlug insbesondere Liv. Frieden gab es für das Mädchen nicht. Und so kämpft sie bis heute mit den Folgen ihrer traumatischen Kindheitserlebnisse.
Sehr behutsam wurde Liv Riktor Lykkenborg von ihrem Lektor interviewt, sie musste oft innehalten und schlucken. Vor Publikum so konkret über ihr Trauma zu sprechen, fiel ihr sichtlich nicht leicht. In der Pause kaufte ich mir spontan ihr Buch „Motstandsbarn. Med fars krigsinnsats i bagasjen“. Es wird mich Kraft kosten, es zu lesen. Doch wenn es um die psychischen Auswirkungen von Krieg auf Kinderseelen geht, müssen wir alle raus aus unserer Komfortzone und hinsehen und zuhören!
5.
Deichmanske Språkkafè
Ich wünsche es einem so hochaktuellen Buch wie „Motstandsbarn“ (siehe 4.), das es ins Deutsche übersetzt wird. Gleichzeitig finde ich es wichtig, es im Original lesen zu können. Meine Freundin Sarah hat es vor kurzem auf den Punkt gebloggt: „Languages give you new ideas because they offer you the capacity to see and explore issues that might otherwise never have become apparent.“ (cam.ac.uk)
Die öffentliche Bibliothek Deichmanske leistet in Oslo großartiges, wenn es um die Vermittlung des Norwegischen geht. Täglich gibt es in mindestens zwei Filialen ein zweistündiges kostenfreies Sprachtraining, mal vom Roten Kreuz organisiert, mal von Freiwilligen (oft pensionierte LehrerInnen) der Deichmanske Filialen. Jedes Mal sitzt an jedem Tisch mindestens einE freiwilligeR SprachtrainerIn, der die Runde aus 4 bis 8 Personen anleitet, Vokabeln erklärt, freundich korrigiert und vor allem: zum Sprechen ermuntert. Der Andrang ist groß, nicht immer finden ale einen Platz, denn die Räumlichkeiten fassen meistens nur so rund 30 Menschen, die seit mehr oder weniger vielen Monaten bzw. Jahren in Norwegen leben, arbeiten oder Arbeit suchen und vor allem: die Sprache lernen wollen. Ich bin in den vergangenen drei Wochen schon häufig dabei gewesen und habe tolle Menschen aus der ganzen Welt kennen gelernt!
6.
Bookcrossing Community Treffen
Apropos: Endlich habe ich mal echte BookcrosserInnen kennen gelernt! Jeden zweiten Donnerstag im Monat gibt es ab 17 Uhr bei LaBaguette im Osloer Hauptbahnhof ein offenes Treffen für alle, die Lust haben, Bücher nicht nur anonym weiterzugeben, sondern auch mal ein bisschen mit anderen Leseratten zu plaudern. Es war richtig spannend an diesem Abend, denn es war auch eine dabei, die schon mehrfach am NaNoWriMo teilgenommen hat. Das hab ich ja auch noch auf meiner Bucket List!
7.
Die Straßenzeitung von Oslo
Seit 2005 gibt es =Oslo, die Straßenzeitung, die monatlich von rund 500 registrierten Verkäufer/innen an durchschnittlich 30.000 LeserInnen verkauft wird. Vor ein paar Tagen habe ich auch endlich ein Exemplar gekauft, mit nem „hundrelappen“, wie dieser Geldschein auf norwegisch heißt, wovon die Hälfte beim/bei der Verkäufer/in bleibt. Ich mag das Konzept und lasse mich immer wieder gern von den persönlichen Geschichten beeindrucken, wenn Menschen sich aus der Scheiße arbeiten, weil sie mit der Zeitung in der Hand als registrierte Vekäufer/innen endlich wieder ein Stück Selbstwertgefühl gewinnen, eine sinnstiftende Tätigkeit und eine unterstützende Community.
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