Das, was ich Euch nun erzähle, geschah wirklich, und zwar ungefähr Ende der 1860ger Jahre draußen vor Vinje, an der Westküste der Vesterålen, als die Fischer und ihre Familien noch auf den Inseln Gaukværøya und Litløya lebten. So erzählte es zumindest Regine Normann, die erste große Schriftstellerin aus Nordnorwegen. Und sie musste es wissen, denn sie kam aus der Gegend und wird die Geschichte als Kind noch aus erster Hand gehört haben.
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Der Kopflose von Litløya
Eine Spukgeschichte von Regine Normann,
aus dem Norwegischen übersetzt und frei nacherzählt von Dörte Giebel
Es war die Zeit des Lachs- und Heringfangs im Herbst… An einem Septembertag rudern die Männer so weit raus, dass die Strömung das Boot von Viljam Pettersa erfasst und bis dicht an die Felsen von Litløya drückt. Mit vereinten Kräften bekommen sie es wieder unter Kontrolle, nur um gleich darauf festzustellen, dass etwas Schweres im Treibnetz hängt. Sie ziehen und hieven fast die gesamten Netze ins Boot, bevor sie endlich sehen können, was sich dort verheddert hat. Es ist eine kopflose Leiche, die ihnen den Fang ruiniert hat. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Netzteile mit dem leblosen Körper herauszulösen und erschöpft zurück zu rudern.
Kaum liegen sie sicher in der Bucht von Gaukværøya, untersuchen die Männer den Kopflosen gründlich und stellen fest, dass es sich um einen gut gekleideten Mann mit blauen Stiefeln handelt. Sie nehmen an, dass er Russe ist, denn zu dieser Jahreszeit fahren viele von ihnen dort vorbei. Geld oder Wertgegenstände hat der Tote nicht mehr bei sich, bis auf einen Silberring am kleinen Finger. Nicht ein einziges Stück bedrucktes Papier findet sich in seinen Taschen und damit keinerlei Hinweis auf seine genauere Herkunft. Es bleibt den Fischern also nichts anderes übrigen, als das zu tun, wozu sie verpflichtet sind, nämlich den Leichnam in geweihter Erde zu bestatten und die Kosten dafür selbst zu tragen. An den Ring kommen sie jedenfalls nicht heran, ohne den Finger abzuschneiden. Doch einvernehmlich befinden sie, dass der arme Mann schon gebeutelt genug ist, wie er so kopf- und heimatlos vor ihnen liegt, da soll er nicht noch mehr ertragen müssen.
Gemeinsam tragen die Fischer den Kopflosen hoch zum Bootshaus von Lars Hansa und legten ihn in einen Sarg, der eigentlich Pernille Sellback gehört, seiner Schwiegermutter. Lars Hansa rückt die Kiste ohne Murren raus, denn er weiß, dass jetzt in der Hochzeit des Fischfangs niemand Zeit hat, einen neuen Sarg aufzutreiben. Außerdem erfreut sich seine Schwiegermutter bester Gesundheit. So schnell wird sie ihren Sarg schon nicht brauchen, denkt er bei sich. Und so legen sie jetzt den Toten hinein und und gehen zurück in ihre Häuser. Sie waren sich stillschweigend einig, gegenüber ihren Familien kein Wort darüber zu verlieren. Am Wochenende werden sie schon die Zeit finden, die Kiste rüber nach Vinje zu rudern und unter die Erde zu bringen.
Am nächsten Nachmittag – die Fischer sind längst wieder draußen beim Heringsfang – beobachten einige Frauen in Naklinggården einen dunkel gekleideten Mann dabei, wie er um das Lars Hansas Bootshauses herumstreicht. Auch die Schafe und Ziegen auf den Weiden oberhalb der großen Bootshäuser scheinen den Fremden zu wittern. Sie flüchten plötzlich, als ob ein Wolf hinter ihnen her wäre, und kauern sich zitternd an den Hauswänden zusammen. Doch genau so plötzlich beruhigen sie sich wieder und trotten friedlich zu den Ställen. Der Fremde ist nicht mehr zu sehen, doch niemand kann sagen, wohin er verschwunden ist. Einige behaupten, ihm habee der Kopf gefehlt. Doch beschwören will das keine, vielleicht ist es auch nur sein weit vornübergebeugter Gang gewesen, der sie getäuscht hat. Sie wundern sich jedenfalls, was das für einer ist, der um diese Zeit nicht zum Fischen rausfährt.
Am nächsten Tag spielen die Tiere noch mehr verrück. Die Kühe bocken und brüllen, die Hunde bellen, jaulen und heulen, der Lärm ist kaum auszuhalten. An diesem Tag bleiben die Frauen und Kinder in ihren Häusern und beobachten durch die Fenster den dunkelgekleideten Fremden, der zwischen den Bootshäusern umwankt. Doch sobald sich eine ihnen vor die Tür traut und ein Stück den Weg zu den Bootshäusern hinunterläuft, ist er wie vom Erdboden verschluckt. Die Menschen in Nakling haben so etwas noch nie zuvor erlebt.
Als die Fischer am Abend zurück kommen, begreifen sie schnell, dass sie ihr Geheimnis nicht länger für sich behalten können. Und so erzählen sie von dem Toten, der dort in Pernille Sellbacks Sarg liegt. Die Frauen werden zornig, als sie begreifen, dass ihre Männern es zugelassen haben, dass der Kopflose in ihrer Bucht sein Unwesen treibt. Und sie verlangen, dass er sofort von der Insel geschafft wird, egal wie viel es bei der Heringsverarbeitung zu tun ist.
Den Fischern bleibt nichts anderes übrig, als vier Mann zu bestimmen, die im Boot von Lars Hansa den Sarg zur Küste rüberruderen. Doch das Boot liegt so schwer im Wasser, dass es kaum von der Stelle zu bewegen ist. Und genau auf halber Strecke zwischen Gaukværøya und Vinje geht es weder vor noch zurück, so sehr sie sich auch in die Ruder legen. Sie sind kurz davor, die Kiste über Bord zu hieven, als einer sich besinnt: „Lasst uns uns wie anständige Menschen benehmen“, brüllt er die anderen an, „schließlich sind nicht wir, sondern der in der Kiste ohne Kopf und Verstand.“ – „Aber ein Herz hat er ja noch, da könnte er wenigstens etwas Mitleid mit uns haben“, schreit einer zurück, „schließlich plagen wir uns hier ab, um ihm ein anständiges Begräbnis zu bieten.“ Da wird einer der Männer sehr ernst und sagt: „Das menschliche Herz ist ein unergründliches Ding, es kann genau so vom Satan wie vom lieben Gott bewohnt werden.“ In dem Moment, als es das ausgesprochen hat, wird das Boot plötzlich leicht wie eine Feder.
Endlich angekommen, können die Männer dem Lehnsmann in Vinje den Leichenfund melden und beim Totengräber eine Grabstelle für ihn bestellen. Den Sarg stellen sie im Boothaus von Job Jonsa in Vinje unter. Dort darf er vorübergehend stehen, bis zum nächsten Sonntag mit Gottesdienst, dann wollen sie ihn endlich zum Friedhof bringen. Und erleichtert, die Leiche erst einmal erfolgreich von der Insel geschafft zu haben, machen sie sich auf den Rückweg übers Wasser.
Doch sie alle haben die beiden Knechte von Job Jonsa vergessen, die noch am gleichen Abend aus dem Eidsfjord zurückkommen. Als sie an besagtem Bootshaus anlegen, holen sie ihre Siebensachen aus dem Boot. Petter Johan, der ältere von beiden, der die Verantwortung trägt und das Komando führt, schickt den Jüngeren los, um den Schlüssel zu holen. Der kommt mit der Nachricht zurück, im Bootshaus stehe ein Sarg mit einer Leiche, sie sollen sich still und leise verhalten – mehr nicht. Sie machen sich also daran, alles ordentlich zu verstauen und den Hering in Kübel umzufüllen. Sie müssen schließlich nur noch die nassen Seile aufhängen. Im Schein ihrer Laterne sehen sie den Sarg, aufgeständert auf zwei Holzböcken an der Längsseite des Bootshauses. Die feinen Steinchen, die am Sargdeckel glitzern im Licht. Um besser an die Balken unterm Dach heranzukommen, steigt Petter Johan mit dem linken Fuß auf den einen Holzbock und stützte den rechten Fuß leicht auf der Kiste ab. Und dann geschieht es. Als er wieder hinunter steigen will, bleibt er am Sarg hängen und reißt ihn von den Böcken. Die beiden Knechte hören den Toten hart gegen den Deckel schlagen. Kein schönes Geräusch, das finden sie beide und bringen den Sarg, so schnell sie können, in die ursprüngliche Position. Sie leuchten den Boden ab und überprüfen, ob alles wieder seine Ordnung hat, und wenden sich rasch zum Gehen. Sie wollen nur noch nach Haus.
Der Jüngere geht voraus, er trägt die Laterne und den Kübel mit den Heringen. Petter Johan folgt ihm rasch. Er spürt, dass sich hinter ihm etwas zusammen braut, dass das Unheilvolle näher und näher kommen, bis ihn, als er gerade über die Türschwelle treten will, ein Schlag an der linken Schulter trifft und zu Boden reißt. „Himmel hilf, jetzt nimmt er mir meine Gesundheit“, entfährt es ihm. Er versucht, sich aufzurappeln und schafft es nur mit Hilfe seines Gefährten, bis hoch zum Hof und ins Bett zu schleppen.
Am nächsten Morgen zeigt sich, dass die gesamte Schulter von Petter Johan zersplittert ist, die Verletzung erstreckt sich über den ganzen Arm und bis runter zum Herzen. Job Jonsa selbst hält die Krankenwache am Bett seines besten Knechts und wechselt alle zehn Minuten die kühlenden Umschläge. Doch eine nennenswerte Linderung gibt es für den armen Mann nicht, der so vom Bösen heimgesucht worden ist – nicht vor Sonntag Vormittag um elf. Da wird er erlöst. Er bittet Gott um Vergebung seiner Sünden und haucht sein Leben aus, wie eine Flamme, die leise erlischt. Das geschieht übrigens in genau dem Moment, in dem die Leute von Nakling mit dem Kopflosen in Richtung Friedhof an seinem Fenster vorbeifahren.
Auf den Spuren von Regine Normann
Regine Normann veröffentlichte diese Spukgeschichte zwei Mal unter dem Titel „Den hodeløse dauingen“ (deutsch: Der kopflose Tote), zunächst in einer deutlich kürzeren Fassung am 26. Juli 1919 in der Tageszeitung „Tidens Tegn“ und dann noch einmal in der dieser freien Übersetzung zugrunde liegenden Version im Jahr 1927 in ihrem Buch „Nordlandsnatt“.
Nur in der Zeitungsversion von 1919 erwähnt Regine Normann namentlich das Ufer von Litløya als Fundort der kopflosen Leiche. Allerdings verwendet die Schriftstellerin in beiden Textversionen die Ortsnamen Nakling (auf Gaukværøya) als Wohnort der Fischer und Vinje als den Ort, an dem der Knecht im Bootshaus verunglückt – es gibt also keinen Zweifel daran, wo die Geschichte sich zugetragen hat.
Auf die Spur der bis dato unentdeckten Zeitungsversion bin ich gestoßen, weil ich im November 2016 auf meiner Reise nach Litløya die Biografie von Liv Helene Willumsen „Havmannens Datter“ über Regine Normann las. Dort ist von einem Touristen die Rede, den die Schriftstellerin im Sommer 1919 auf einem Hurtigrutenschiff getroffen hatte, weil er nach der Lektüre ihrer Spukgeschichte in der „Tidens Tegn“ nun insbesondere die Insel Litløya mit eigenen Augen sehen wollte. Ich fragte die Biografin, um welche Spukgeschichte es sich handeln würde, denn der Hinweis fehlt in ihrer Biografie, doch Liv Helene Willumsen wusste davon auch nur aus einem Brief von Regine Normann an ihre Mutter und hatte den erwähnten Zeitungsausschnitt selbst nie zu Gesicht bekommen. Deshalb konnte bislang auch niemand den Zusammenhang zur in „Nordlandsnatt“ veröffentlichten Spukgeschichte (in der Litløya ja nicht explizit genannt wird) herstellen.
Ich machte mich also Ende November 2016 in der Nationalbibliothek Oslo daran, die alten Ausgaben der Osloer Tageszeitung durchzugehen … und wurde fündig. 🙂
Es schein noch eine Menge weiterer „verschollener“ Texte von Regine Normann in der „Tidens Tegn“ zu geben – ein guter Grund, im Februar noch einmal nach Oslo zu reisen…